ABSTRACT

In der wissenschaftlichen Kontroverse um die Frage von Bachs Vertonung des Picander-Jahrgangs 1 hat sich jüngst erneut Klaus Häfner zu Wort gemeldet. 2 Den Angelpunkt der Diskussion bildet nach wie vor die Vorbemerkung des von Philipp Spitta und Rudolf Wustmann noch benutzten, seit dem zweiten Weltkrieg jedoch verschollenen einzigen nachweisbaren Exemplars des Picanderschen Textdrucks von 1728:

Gott zu Ehren, dem Verlangen guter Freunde zur Folge und vieler Andacht zur Beförderung habe ich mich entschlossen, gegenwärtige Cantaten zu verfertigen. Ich habe solches Vorhaben desto lieber unternommen, weil ich mir schmeicheln darf, daß vielleicht der Mangel der poetischen Anmuth durch die Lieblichkeit des unvergleichlichen Herrn CapellMeisters, Bachs, dürfte ersetzet, und diese Lieder in den Haupt-Kirchen des andächtigen Leipzigs angestimmet werden. 3

In seiner Analyse der Grammatik von Picanders zweitem Satz behauptet Häfner, daß sich „vielleicht" auf „Mangel" und nicht auf „dürfte ersetzet" bezieht (H 2, S. 158). Demnach würde das Adverb zur Modifizierung eines Substantivs anstatt eines Verbs gedient haben. Dieser offensichtliche Irrtum leitet sich her von einer durch Einschieben eines partizipialen Adjektivs vorgenommenen Umformulierung des Picanderschen Wortlauts. Hafner liest die Worte „daß vielleicht der Mangel..." als „daß der ihnen vielleicht anhaftende Mangel.. ." 4 Da Picander jedoch „vielleicht" nicht zwischen „der" und „Mangel" plaziert, muß die Häfnersche Umformulierung als eine unzulässige Sinnabänderung angesehen werden.