ABSTRACT

Wenn wir uns über die Entwicklung des Schaffens von Chopin und insbesondere über die stilistischen Eigenheiten seiner Werke Gedanken machen, drängt sich uns sofort die Frage auf, ob es in diesem Fall um den individuellen Stil des Komponisten geht oder um den nationalen und romantischen Stil. Es unterliegt keinem Zweifel, daß diese stilistischen Kategorien sich einander ergänzen. Zweifellos ist der romantische Stil etwas Übergeordnetes, seine Komponenten jedoch sind die nationalen Stile und die Stile der einzelnen Komponisten. Alle zusammen schaffen eine große Vielfalt, die nur schwer auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen wäre. Besonders der romantische Stil ist schwer definierbar. Man kann sogar bezweifeln, ob es sich in diesem Fall wirklich um stilistische Kategorien handelt oder vielleicht nur um eine bestimmte Haltung des Komponisten. Doch auch von diesem Blickpunkt aus ist die Erwägung dieses Problems nicht leicht. Im Zeitalter der Romantik 1 begegnen wir verschiedenen Haltungen der Komponisten 2 und im Zusammenhang damit verschiedenen, sogar gegensätzlichen Interessenbereichen 3 . Das Streben, eine möglichst große Vielfalt der Erscheinungen zu umfassen, ist nichts anderes als eine Kraft, die den Menschen zur unaufhörlichen Suche anregt, die Kraft, die die Entwicklung des Individualismus und Subjektivismus fördert. Die Gegensätze werden zur Quelle reicher Erlebnisse und gleichzeitig zur treibenden Kraft künstlerischer Tätigkeit. Die Summe der individuellen kompositorischen Erfahrungen schafft jenes prächtige Bild, das für die Musik des romantischen Zeitalters charakteristisch ist. Etwas wesentliches ist die nationale Kunst, die zum allgemeinmenschlichen Wert wird, und im Zusammenhang damit zu einem der wichtigsten Elemente der Kunst der romantischen Epoche. Das individuelle Verhältnis zu künstlerischen Problemen, die mit der ungewöhnlichen Mannigfaltigkeit der Erscheinungen verbunden sind, findet seinen unmittelbaren Ausdruck in der künstlerischen Form. Einerseits beobachten wir das Stieben nach Konzentration der Form auf einen kleinen Raum, genauer gesagt, eine Vorliebe für die vokale und instrumentale Miniatur. Andererseits zeichnet sich die Tendenz zum Ausbau großer Formen ab. All das scheint gegensätzliche Richtungen zu schaffen; in Wirklichkeit aber laufen sie in einem Punkt zusammen, nämlich im Streben, die Ausdrucksmittel zu bereichern. Die Konsequenz der Entwicklung der schöpferischen Individualität ist die freie Wahl der Interessengebiete im Einklang mit den eigenen psychischen Neigungen. Damit ist die Konzentration auf gewisse Gattungen zu erklären und im Fall Chopin sein Interesse vorwiegend für Klaviermusik.