ABSTRACT

Als Frédéric Chopin im Jahre 1840 seine zweite Ballade opus 38 publizieren ließ, rückte er sie mit dem frei gewählten Gattungstitel unmittelbar neben die erste Ballade opus 23, obwohl sich die beiden Kompositionen in erheblicher Weise voneinander unterscheiden. Nun wäre es sicher übertrieben zu behaupten, die im selben Jahrzehnt entstandenen Stücke hätten nichts außer dem Titel gemein, aber ein Blick in die Chopin-Literatur zeigt, daß die meisten Interpreten mehr oder weniger irritiert vor den auffälligen Differenzen stehen. Wo die erste Ballade mit melodisch ausladender, instrumental geprägter Gestik einen epischen, wenn nicht sogar bardenhaften Ton anstimmt, mag man den auf syllabisch deklamierende Vokalmusik verweisenden Beginn der zweiten Ballade kaum mit Begriffen wie „episch’ oder „rhapsodisch’ belegen, wirkt diese verhaltene Eröffnung doch eher als Ausdruck des Naiven. Während die erste Ballade von Anfang an stabil auf ihren Grundton g bezogen ist – schon die das Moderato-Thema eröffnende Geste weist überdeutlich auf den Grundton –, sind die ersten Takte der zweiten Ballade vom gleichsam schwebenden Erklingen harmonischer Nebentöne wie der dritten und der fünften Stufe geprägt, und folgerichtig wird die tonale Orientierung des Hörers bis zum Schlußakkord im unentschiedenen Wechsel von F-Dur und a-Moll auf die Probe gestellt. Wo opus 23 sich sogleich im Largo und „pesante’ manifestiert, unterstreicht Chopin den schüchternen Charakter der Eröffnung von opus 38 mit der Anweisung „sotto voce’, und auch die Taktvorzeichnung akzentuiert diesen Unterschied: dort eher schwer zu spielende Viertel mit Akkorden auf allen Zählzeiten, hier ein leichtfüßiger 6/8-Takt, in dessen Rahmen musikalische Ereignisse auf der zweiten und fünften Achtel seltene Ausnahmen bleiben. Andererseits schockiert die zweite Ballade den 116Hörer mit kaum vermittelten und scharfen Kontrasten zwischen extrem gegensätzlichen Abschnitten, während die verschiedenen Teile der ersten Ballade durch fließende Öbergänge miteinander verbunden sind.