ABSTRACT

Im Schrifttum des Hanlin-Gelehrten und protestantischen Konvertiten Wu Leichuan (1869-1944) 1 gibt es zwei größere Entwürfe des Lebens und der Lehre Jesu. Der eine findet sich in Jidujiao yu Zhongguo wenhua (1936), der zweite - auf den sich der folgende Beitrag konzentriert - in Modi yu Yesu (1940). 2 Der erste Entwurf löste eine heftige Kritik, insbesondere seitens des Theologen Zhao Ziehen (1888-1979), aus. Obwohl Wu Leichuan seine Ansichten über Jesus in Modi yu Yesu ein wenig revidierte, weicht dieser zweite Interpretationsversuch im wesentlichen nicht von dem ersten ab, fällt sogar radikaler aus, vor allem durch den Vergleich zwischen Jesus von Nazareth und dem „unorthodoxen“ Philosophen Mozi (ca. 479-381 v.Chr.), dem einzigen chinesischen Philosophen, der es wagte, über die hierarchischen und geographischen Festlegungen der chinesischen Gesellschaft hinaus zu schauen und die Menschheit in „allumfassender Liebe“ (jian'ai) vereint zu sehen. Wu Leichuan stellte die „zwei Heiligen“ (shengren), Mozi und Jesus, als Vorbilder dar, als die junzi und caishi, die maßgebenden und tüchtigen Menschen, denen man folgen sollte; Menschen also, „die durch ihr Dasein und Wesen das Menschsein wie keine anderen Menschen geschichtlich bestimmt haben". 3 Das Ideal des junzi war für Wu - um mit Tilemann Grimm zu sprechen - „eine Chiffre fur das Modellhafte des guten, des tüchtigen, des überlegenen und des ausgleichenden Menschen", des caishi. 4