ABSTRACT

Merkwürdig unterbelichtet und ambivalent erscheint das Bild, das die Musikgeschichtsschreibung von dem ältesten Sohn des Eisenacher Stadtpfeifers Johann Ambrosius Bach entworfen hat. 1 Im Prinzip stützt es sich lediglich auf die wenigen Mitteilungen, die Carl Philipp Emanuel Bach und Johann Fried rich Agricola in den Ende 1750 in Berlin ˶zusammengestoppelten" Nekrolog auf Johann Sebastian Bach aufgenommen haben 2 :

˶Johann Sebastian war noch nicht zehen Jahr alt, als er sich, seiner Eltern durch den Tod beraubet sahe. Er begab sich nach Ohrdruff zu seinem ältesten Bruder Johann Christoph, Organisten daselbst, und legte unter desselben Anführung den Grund zum Clavierspielen. Die Lust unsers kleinen Johann Sebastians Zur Musik, war schon in diesem zarten Alter ungernein. In kurtzer Zeit hatte er alle Stücke, die ihm sein Bruder freywillig zum Lernen aufgegeben hatte, völlig in die Faust gebracht. Ein Buch voll Clavierstücke, von den damaligen berühmtesten Meistern, Frobergern, Kerlen, Pachelbeln aber, welches sein Bruder besaß, wurde ihm, alles Bittens ohngeachtet, wer weis aus was für Ursachen, versaget. Sein Eifer immer weiter zu kommen, gab ihm also folgenden unschuldigen Betrug ein. Das Buch lag in einem blos mit Gitterthüren verschlossenen Schrancke. Er holte es also, weil er mit seinen kleinen Händen durch das Gitter langen, und das nur in Pappier geheftete Buch im Schrancke zusammen rollen konnte. auf diese Art, des Nachts, wenn iedermann zu Bette war, heraus, und schrieb es, weil er auch nicht einmal eines Lichtes mächtig war, bey Mondenscheine, ab. Nach sechs Monaten, war diese musicalische Beute glücklich in seinen Händen. Er suchte sie sich, insgeheim mit ausnehmender Begierde, zu Nutzen zu machen, als, zu seinem größten Herzeleide, sein Bruder dessen inne wurde, und ihm seine mit so vieler Mühe verfertigte Abschrift, ohne Barmherzigkeit, wegnahm. Ein Geiziger dem ein Schiff, auf dem Wege nach Peru, mit hundert tausend Thalern untergegangen ist, mag uns einen lebhaften Begriff, von unsers kleinen Johann Sebastians Betrübniß, über diesen seinen Verlust, geben. Er bekam das Buch nicht eher als nach seines Bruders Absterben, wieder. Aber hat nicht eben diese Begierde in der Musik weiter zu kommen, und eben der, an das gedachte Buch, gewandte Fleiß, zufäalliger Weise vielleicht den ersten Grund zu der Ursache seines eigenen Todes geben müssen? wie wir unten hören werden. Johann Sebastian begab sich, nachdem sein Bruder gestorben war, in Gesellschaft eines seiner Schulcameraden, Namens Erdman, . . . nach Lüneburg, auf das dasige MichaelsGymnasium."

Diese Anekdote, der die zeitübliche teleologische Komponente 3 nicht fehlt –der augenschädigende Eifer im Studieren und Abschreiben legte schon in frü 4her Kindheit den Keim für die Krankheit, die zum vorzeitigen Tode des Thomaskantors führen sollte—, zeichnet bildkräftig die Höhen und Tiefen, die der junge Johann Sebastian durchleben mußte: Seinen Unmut über das Vorenthalten der heißersehnten Handschrift, Furcht und Vorsicht bei der ˶unschuldigen" Entwendung und illegalen Abschriftnahme, den Schmerz über den Verlust der unter so großen Mühen hergestellten Kopie, die Langzeitwirkung der unterlassenen Rückgabe. Andererseits leidet die Glaubwürdigkeit des keineswegs nebensächlichen Berichts unter der Fehlerhaftigkeit der andeutungsweise einbezogenen Lebensdaten des älteren Bruders, zumal die Vermutung naheliegt, die Erzählung gehe in der voriiegenden Form auf Johann Sebastian Bach zurück – einschließlich dieser chronologischen Hinweise.