ABSTRACT

Unter den drei Wilhelm-Meister-Romanen, die Goethe in großen zeitlichen Abständen verfaßt hat, ist der früheste, Wilhelm Meisters theatralische Sendung, immer noch, trotz mehrerer, allerdings etwas zaghaft werbender Versuche, 1 der unbekannteste und am wenigsten geschätzte geblieben. Wilhelm Meisters Wanderjahre gelten als Fundgrube der zivilisationskritischen, philosophischen und mythologischen Ideen des späten Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre dagegen wurden und werden als ehrenwertester und bedeutendster aller deutschen Bildungsromane angesehen, Muster einer ganzen Gattung mit einer großen unbestimmten Zahl von Nachfolgern. Immer wieder seit der Kritik der Romantiker, verstärkt in den letzten Jahren, ist allerdings die Tauglichkeit dieses Romans, als Parameter der genannten Gattung zu dienen, auch bezweifelt worden. Drei Aufsätze aus den letzten beiden Jahren sind zu dem Urteil gekommen, der harmonische Ausgleich zwischen dem sich entwickelnden Ich der Umwelt sei in den Lehrjahren zwar proponiert, aber nicht wahrhaft gestaltet. 2 Die dabei vorgebrachten Argumente haben einiges Gewicht, können hier aber nicht weiter erörtert werden. Hier soll vielmehr der Versuch gemacht werden, dem Vorläufer der Lehrjahre, der Theatralischen Sendung eine vermehrte und verdiente Aufmerksamkeit zu schenken. Allzusehr und allzulange schon steht, so möchte ich meinen, die Sendung im Schatten der Lehrjahre. Das hat seinen Hauptgrund darin, daß dieser in Goethes erstem Weimarer Jahrzehnt (zwischen 1777 und 1785) geschriebene Text Fragment geblieben und von Goethe selbst nie veröffentlicht worden ist. Er besteht aus sechs Büchern schmalen Umfangs. Sechs weitere Bücher waren geplant, sind aber nicht formuliert worden, auch eine Planskizze, die Goethe entworfen hat, 3 ist nicht erhalten. Die Tatsache, daß die sechs existierenden Bücher der Theatralischen Sendung dann später zu den ersten fünf Büchern der Lehrjahre umgeschrieben wurden, hat dazu geführt, daß man der Sendung in der Goethe-Forschung und vor allem im Lesepublikum nicht die nötige Beachtung geschenkt hat (in den Lehrjahren hat Goethe dann drei weitere Bücher mit einer gänzlich neuen Thematik angefügt, vor allem steht in diesem Schlußteil die Turmeesellschaft ganz im Mittelpunkt der Geschehens).