ABSTRACT

Der noch verhältnismäßig junge, aber bereits berühmte Heinrich Heine wird nach seinen zwiespältigen heimatlichen Erfahrungen, die er freilich auf Reisen mit solchen aus halb Europa hatte vergleichen können, im Mai 1831 endlich in Paris, der damaligen Hauptstadt einer ganzen Epoche und Welt, als journalistischer Vermittler zwischen deutschen und französischen Gepflogenheiten wie Ereignissen tätig. Dabei gerät er als Flaneur und Beobachter der Französischen Zustände, wie er seine Ende 1832 mit dem Erscheinungsdatum 1833 als Buch zusammengefaßten Skizzen für Cottas Augsburger Allgemeine Zeitung nennt, im Laufe der Zeit zwangsläufig auch zum 1806 erbauten Leichenschauhaus, zur Morgue, damals gelegen auf der Île de la Cité am Ende des Pont Saint-Michel, nach heutiger Bezeichnung am Quai du Marché Neuf unmittelbar an der Brücke. Heine bezeichnet die Morgue als “jenes trübsinnige Haus, das vielmehr einem großen Steinklumpen gleicht”, und beschreibt die Funktion in drastischem Realismus mit Einschlüssen aus der schwarzen Romantik als eine, “wo man die Leichen, die man auf der Straße oder in der Seine findet, hinbringt und ausstellt, und wo man also die Angehörigen, die man vermißt, aufzusuchen pflegt”. Auch Charles Dickens spricht 1852 noch von dieser ‘gräßlichen Morgue’, 3die dann zwölf Jahre später abgerissen und durch ein größeres und moderneres Gebäude nahe Notre-Dame ersetzt wurde. Die alte Morgue war ein Platz der Sensation und des Schmerzes. Dorthin eilten nach den blutigen Straßenunruhen Anfang Juni 1832, wie Heine beobachtet, viele Menschen, wobei einige voller Angst “die ausgestellten Todten betrachteten, immer fürchtend, denjenigen zu finden, den sie suchten”. Heine illustriert seinen makabren Bericht durch “zwey entsetzliche Erkennungsscenen” von äußerster Gegensätzlichkeit: “Ein kleiner Junge erblickte seinen todten Bruder, und blieb schweigend, wie angewurzelt stehen. Ein junges Mädchen fand dort ihren todten Geliebten und fiel schreyend in Ohnmacht” (DHA XII/i, 186f.). 1 Heine mußte übrigens, wie sein Bericht in lebendiger Unmittelbarkeit ausführt, die Unglückliche, da es sich zufällig um eine Nachbarin handelte, nach Hause führen.