ABSTRACT

Nach einer weit verbreiteten Deutung 1 beschrieb Dikaiarch in seinem Bίος ‘Ελλάδος 2 das Leben der Menschen der Frühzeit in einer idealisierenden Weise und vertrat damit einen Primitivismus, der sich so schlecht mit dem Fortschrittsdenken seines Lehrers 3 zu vertragen scheint. Demgegenüber hat sich T. Saunders 4 gegen eine simple Deutung dieser Schrift des Dikaiarch als primitivistisch ausgesprochen. Er argumentiert, daß gewisse ihm von Porphyrios, dem Gewährsmann des ausführlichsten Berichtes, zugeschriebene Auffassungen eher mit Vorsicht zu benutzen seien; bestimmte Annahmen des Dikaiarch über Kulturentwicklung seien auch mit peripatetischen Grundüberzeugungen unvereinbar; er weist ihm daher eine paradoxe oder 256ironische 5 Einstellung zum Fortschritt zu. Saunders hatte nicht beansprucht, die Quellen Dikaiarchs zu untersuchen, und nur einzelne ausgewählte Aspekte des uns erhaltenen Werkes, besonders die medizinischen Vorstellungen, zu zeitgenössischem Gedankengut in Beziehung gestellt. Einige der Probleme, die ihm schwer lösbar erscheinen (z.B. S. 245), erklären sich jedoch leicht oder erledigen sich völlig vor dem Hintergrund der bei Dikaiarch vorausgesetzten Vorstellungen, die wir bei Denkern des vierten Jahrhunderts finden. Klarheit über die Deutung der Gedanken und Absicht des Dikaiarch läßt sich eher gewinnen, wenn man in umfassenderer Weise seine Tendenz, die Methodik und die Auswahl der von ihm berücksichtigten Erscheinungen in die Tradition oder zeitgenössische Diskussion um Fortschritt stellt und von anderen Äußerungen besonders des vierten Jahrhunderts zu den gleichen oder verwandten Fragen abgrenzt. Ein solcher Ansatz soll hier verfolgt werden.